Seelenschmerz

Traum Part 1

Der Dunkle Engel und Sie
Part 1

Da lag sie nun in ihrem Bett und schlief. Sie träumte.
Unruhig warf sie sich hin und her. Tränen rannen über ihr Gesicht, wie so oft in der letzten Zeit. Sie hatte im Schlaf ihre Decke von sich geworfen, und lag nun zitternd da. Schwarz war ihr Traum, finster.
Wie durch einen dunklen Tunnel blickte sie auf einen von Sternen durchwirkten Himmel.
Sie bemerkte einen weit entfernten Stern. Er blinkte auf, so, als zwinkerte er ihr zu. Immer näher kam er. Wurde heller und heller, und leuchtete mehr und mehr. Angst ergriff sie. Näher und näher kam der Stern auf sie zu. Plötzlich war er zum Greifen nah, und aus ihm war ein dunkler Engel geworden. Groß, schwarz, mit gewaltigen schwarzen Flügeln.
So stand er vor ihrem Bett. Er lächelte. Sie lächelte schüchtern zurück. Er strich ihr durchs Haar, sachte löste er ihr Haarband, und ihr Haar fiel über ihren Rücken.
Sie sank in seine Arme, leicht und unbeschwert. Sie lehnte sich an ihn an. Lange Zeit hielt er sie einfach nur fest. Fest in seinen Armen, und mit seinen Flügeln umschlungen. Lange, lange standen sie so umschlungen da. Alles um sie herum schien ihr nun unbedeutend. Er legte sie sanft hin und beugte sich über sie. Ihr Herz schlug schneller, voller Erwartung schaute sie zu ihm auf. Fremd erschien er ihr nicht, der dunkle Engel. Gespannt wartete sie.
Er begann, ihr Gesicht zu bemalen. Mit weißer Farbe schminkte er ihre Haut. Schwarz bemalte er ihre Augen, blutrot ihre Lippen. Scheu sah er sie an, als würde er fragen, wie es ihr gefiel. Noch drei Striche malte er, neben dem rechten Auge. Warum, das wußte sie nicht. Fragte auch nicht. Sie wußte nur, sie fand sich schön. Mit ausgestreckten Armen umfaßte er ihre Schultern. Zustimmend nickend betrachtete er sein Werk. Er sah sie an, und sie glaubte, sein Flüstern in ihrem Kopf zu vernehmen. „Gut“, schien er zu murmeln, „gut“.
Er nahm sie bei der Hand. „Komm“, vernahm sie wieder.
Sie zögerte nur kurz, dann gingen sie, der dunkle Engel und sie. Schritt um Schritt, Meter um Meter. In die Stadt hinein, mitten in der Nacht. In manchen Fenstern war noch Licht, doch das war einerlei. Sie gingen weiter und weiter.
Dann kamen sie zum Fluss. Dort verweilten sie einen Moment. Der Nachtwind wehte durch ihr Haar, leise hörte sie das Rauschen seiner Flügel.
Weiter gingen sie, in die Stadt hinein. Kamen zu einer Wirtschaft, die eben schließen wollte. „Nur auf ein Glas“, bat sie den Kellner. Nahm er den dunklen Engel wahr? Oder sah er nur eine Frau und einen Mann auf nächtlichem Spaziergang? Rotwein tranken sie, schauten sich an und sprachen kein Wort. Nach einer kleinen Weile warf sie einen Geldschein auf den Tisch und zwinkerte ihm zu.
„Zeige mir noch mehr von der Nacht“, bat sie ihn leise. Still lächelte er sie an, nahm ihre Hand und zog sie mit sich fort. Wieder gingen sie zum Fluss.
Regen fiel, und er breitete seine Flügel aus. So standen sie wieder am Wasser. Schauten den Wellen zu, sahen Regentropfen hinein fallen. Er sagte kein Wort, und doch glaubte sie, ihn zu hören. Eine Melodie, süß und schwer, klang in ihrem Kopf, so, als sänge er ihr sein Lied. Sie schloss die Augen und ließ sich in seine Arme sinken. Als würde dieser Moment ewig andauern, blieben sie stehen, der dunkle Engel und sie.
„Mag die Nacht noch dauern“, hoffte sie, „was kümmert mich der Tag, ich will in dieser Nacht verweilen“.
Mit dem schwarzen Engel. So vertraut kam er ihr vor, als kennen sie sich schon immer. Sie schaute ihm in die Augen, fast verlor sie sich darin. Ganz so, als würde sie in den tiefen seiner Augen nach Antworten suchen.
Er schaute sie an, und bemerkte ihre Tränen. Stummes weinen, nur die Tränen liefen über ihr Gesicht, dort, wo er die schwarze Linie gemalt hatte. Dort entlang lief eine Träne, wie ein schwarzer Diamant glitzernd. Vorsichtig berührte er ihre Haut, fing die Träne sacht mit der Fingerspitze auf. Lange standen sie da. Und sie weinte Träne um Träne. Wieder und wieder fing er ihre Tränen auf, als würde er sie von ihr nehmen. Sie sah eine Hand voll Tränen. Ein kleiner See in seiner Hand, der in der Dunkelheit glitzerte.
Leichter war ihr ums Herz geworden. Als habe er mit all den Tränen auch all den Schmerz von ihr genommen, der dunkle Engel. Seine schwarzen Flügel umfingen sie.
„Bleibe“, sagten ihre Augen stumm zu ihm.
Eine Woge von Sehnsucht überkam sie. Nie mehr wollte sie den dunklen Engel fortgehen lassen. Sie klammerte sich an seine Schultern fest.
Sachte zog er sie von sich, nahm sie bei der Hand, und wieder gingen sie. Schritt um Schritt, Meter um Meter. Wärme durchflutete sie in der kühlen Nacht.
In ihrer Strasse blieben sie unter einer Laterne stehen. Der Regen hatte aufgehört, und der Asphalt glitzerte im Laternenschein. Wieder hörte sie diese Melodie in ihrem Kopf. Seltsam befreit fühlte sie sich nun.
Sie hatte längst aufgehört zu weinen. Kein Schmerz mehr, keine Tränen. Grade so, als hätte er den größten Schmerz von ihr genommen, und mit den Tränen fort gewischt.
Sachte nahm er sie auf die Arme, der dunkle Engel. Er legte sie wieder in ihr Bett, und es schien ihr, als flüsterte er ihr zu: „Schlafe ruhig, still jetzt, weine nicht mehr“.
Eine kleine Weile saß er noch an ihrem Bett und strich ihr durchs Haar.
Dann stand er auf und breitete seine Flügel aus. Er schwebte davon. Sie sah ihm noch lange hinterher. Immer kleiner wurde seine Gestalt, und dann war er fort.

Als sie sehnsüchtig in den dunklen Himmel sah, erkannte wieder das glitzern eines weit entfernten Sterns.

Mit freundlicher Genehmigung von Fledermaus30
http://www.keinverlag.de/129888.text


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